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Beschluss der 92. Vollversammlung 2019
14.05.2019
Etwa 100 Delegierte aus den Jugendverbänden und Kreisjugendringen in Schleswig-Holstein sowie Gäste von Parteien und Verbänden waren der Einladung des Landesjugendrings am 11.05.2019 zu seiner jährlichen Vollversammlung ins Kiek In! in Neumünster gefolgt und beschlossen "Ganztagsschule – im Interesse von Kindern und Jugendlichen?!"
Die Landesregierung plant das Ganztagsschulangebot in Schleswig-Holstein in den nächsten Jahren weiter auszubauen. Das Bildungsministerium stellt auf seinem Internetauftritt fest: „Heute bieten mehr als 60 Prozent der Schulen ergänzende Angebote – ein Zeichen, dass alle an Schule Beteiligten zunehmend von den Vorzügen eines Ganztagsschulbetriebs überzeugt sind.“ (https://www.schleswig-holstein.de/DE/Schwerpunkte/Ganztagsschulen/ganztagsschulen_node.html, 29.01.2019). Diese Einschätzung teilt der Landesjugendring nicht. Wir fordern:
Die Debatte über Ganztagsschule wird unter dem Stichwort „Betreuung“ geführt. Dabei stehen die (berechtigten) Interessen von Eltern im Vordergrund. Wir fordern, an erster Stelle die Interessen von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen. Kinder und Jugendliche müssen eine Wahl haben, wie sie ihre Freizeit verbringen wollen und welche Angebote, ob in der Ganztagsschule oder außerschulisch, sie wahrnehmen wollen.
Entscheidend bei einem Ausbau der Ganztagsschule muss sein, wie sie kinder- und jugendgerecht gestaltet wird. Qualität bedeutet ein vielfältiges Angebot, das aus den Interessen der Kinder- und Jugendlichen entwickelt wird. Dazu gehört ein qualitativ hochwertiges Angebot durch multiprofessionelle Teams.
Eine kinder- und jugendgerechte Gestaltung von Ganztagsschule bedeutet die Schaffung von Freiräumen und Angeboten für die Persönlichkeitsentwicklung jenseits von Hausaufgabenbetreuung und Anwesenheit einer erwachsenen Aufsichtsperson.
Je mehr Raum Schule im Leben von Kindern und Jugendlichen einnimmt, desto wichtiger ist es, diese als Hauptakteure an der Entwicklung ihres Umfelds zu beteiligen. Mitbestimmung am Schulgeschehen und Mitgestaltung der Schule sind entscheidende Faktoren, um sich wohlzufühlen. Der Ganztagsschule kommt daher die Aufgabe zu, angemessene Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen, damit Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden. Eine beteiligungsorientierte Schulkultur ist konzeptionell im Schulprogramm und in den pädagogischen Leitlinien und Prinzipien zu verankern. Die Umsetzung von Partizipationsprozessen erfordert auch eine entsprechende Ausbildung der an Schule Tätigen zum Thema Beteiligung.
Partizipation kann in der Schule nur aktiv erfahren und gelebt werden, wenn sie durch kontinuierliche, reale Situationen geübt wird. Sie reicht von der Mitwirkung in klassischen schulischen Gremien über Unterricht und Lernzeiten bis zu Pausen, Ganztagsangeboten und Projekten mit außerschulischen Partnern. Die Verantwortungsübernahme von Kindern und Jugendlichen soll unterstützt und Demokratie als Lebensform erfahren werden. Dies geschieht über schulisches Engagement hinaus insbesondere über die Einbeziehung außerschulischer Lernorte und das Kennenlernen von außerschulischem Engagement.
Jugendarbeit besitzt andere Erfahrungen und Zugänge als Schule für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Diese gilt es als gleichwertig anzuerkennen und von Schule als Bildungspartner auf Augenhöhe wahrzunehmen. Dazu gehört auch, bei Schüler*innen die Teilnahme an Jugendverbandsaktivitäten als Teil des Ganztagsschulangebotes anzuerkennen und zu ermöglichen, dass Aktivitäten bei Partner*innen außerhalb des Schulgeländes unter anderen Bedingungen stattfinden.
Schule besitzt eine zivilgesellschaftliche Verantwortung. Sie sollte sich deshalb des besonderen Wertes von Kooperationen mit Vereinen und Verbänden als ehrenamtlich getragenen Organisationen bewusst sein und sich bemühen, über punktuelle Zusammenarbeit hinaus einen möglichst breiten Einblick in außerschulische Angebote der Jugendarbeit im Sozialraum zu gewinnen. Wir weisen ausdrücklich auf die Gefahr einer Kommerzialisierung von Ganztagsangeboten hin, die dazu führt, dass vorhandene Netzwerke und ehrenamtliche Strukturen zerstört werden.
Wir erneuern unsere Forderung nach regionalen Koordinierungsstellen zwischen Ganztagsschulen und Jugendverbänden und Vereinen, die Modell-Projekte durchführen, Best Practice-Beispiele und Angebote von Vereinen und Verbänden sammeln, die beteiligten Partner*innen beraten und aktiv auf Schulen, Vereine und Verbände zugehen. Aufgrund der vielfältigen Modelle von Ganztagsschule ist für außerschulische Partner*innen auch eine transparente Information über Aufbau und Gestaltung der jeweiligen Ganztagsschulen und ihrer Kooperationsmöglichkeiten sehr wichtig.
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf freie, selbstbestimmte Zeiten, die sie für ihre Entwicklung benötigen. Das umfasst Jugendarbeit ebenso wie Zeiten des Nichtstuns, des Treffens mit Freund*innen oder individueller Beschäftigung. Eine Betreuung im formalen Bildungssystem in Vollzeit wird dem nicht gerecht. Ausführlich haben wir dies bereits in unserer Positionierung zu Ferienbetreuung an Grundschulen dargelegt und auf die besondere Bedeutung von Ferien und Ferienfreizeiten für Kinder und Jugendliche hingewiesen. Ferien sind auch vielfach der letzte Zeitraum, zu dem Kinder und Jugendliche in Kontakt mit anderen kommen, die nicht aus demselben Bildungszusammenhang stammen. In einer neuen Gruppe, an einem neuen Ort können sie sich und andere neu erleben, insbesondere diejenigen mit Schwierigkeiten in der Schule (egal ob im Unterricht oder sozialer Natur).
Zwei der wichtigsten Prinzipien der Jugendverbandsarbeit sind Freiwilligkeit und Selbstorganisation. Als Werkstätten der Demokratie erfüllen Jugendverbände eine besondere Funktion. Ganztagsschule kann dem naturgemäß nicht gerecht werden. Jugendverbände sind ein nicht wegzudenkender Bildungsort, an dem Demokratielernen und Persönlichkeitsentwicklung stattfinden. Es muss daher sichergestellt werden, dass ausreichend Zeiten, auch unter der Woche, eingeplant werden, an denen Kinder und Jugendliche außerschulischen Aktivitäten nachgehen können.
Jugend ist eine eigene Lebensphase mit besonderen Bedürfnissen, in der das Erproben von Möglichkeiten und Verselbständigung im Vordergrund stehen. Der 15. Kinder- und Jugendbericht des BMFSFJ stellt fest: „Die Debatten um Ganztagsschulen wurden bislang von allen Seiten in einer auffälligen Vernachlässigung der Altersfrage der Heranwachsenden geführt“ (ebd., S. 330). Dies führt dazu, dass Konzepte von Grundschulen auf Jugendliche an weiterführenden Schulen übertragen werden und, als Konsequenz dazu, „dass Jugendliche mit steigendem Alter bei entsprechender Möglichkeit das Format der Ganztagsschule ‚abwählen‘“ (ebd., S. 346). Der Bericht zeigt die Spannungsfelder zwischen den Herausforderungen des Jugendalters und der Ganztagsschule. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit Ganztagsschule überhaupt jugendgerecht gestaltet werden kann. Klar ist: Die bisherigen Konzepte sind es nicht.
Wir fordern alle am Ganztag Beteiligten dazu auf anzuerkennen, dass Ganztagsschule an erster Stelle die Interessen von Kindern und Jugendlichen berücksichtigen muss!
Ganztagsschule – im Interesse von Kindern und Jugendlichen?!